Münchner Beiträge zur Jüdischen Geschichte und Kultur 15 (2021), 2

Titel der Ausgabe 
Münchner Beiträge zur Jüdischen Geschichte und Kultur 15 (2021), 2
Weiterer Titel 
Jüdische Schicksale im faschistischen Italien

Erschienen
München 2021: Selbstverlag
Erscheint 
halbjährlich
Anzahl Seiten
104
Preis
€ 10,00

 

Kontakt

Institution
Münchner Beiträge zur Jüdischen Geschichte und Kultur
Land
Deutschland
c/o
Abteilung für Jüdische Geschichte und Kultur an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Historisches Seminar Geschwister-Scholl-Platz 1 80539 München
Von
Philipp Lenhard, Abteilung für Jüdische Geschichte und Kultur, Ludwig-Maximilians-Universität

Italien war seit dem 19. Jahrhundert ein Land vielschichtiger jüdischer Identitätsmuster und Orientierungen, in dem ­Juden bemerkenswerte politische Anerkennung genossen und höchste staatliche Ämter bekleiden konnten. Dieses Bild multipler Lebensstile und zugleich innerer Differenzen hielt sich über die desaströsen Erfahrungen des Ersten Weltkrieges, in dessen Verlauf Jüdinnen und Juden sowohl aufseiten der Interventionisten standen als auch aufseiten derjenigen, die für die Neutralität Italiens eintraten. Und dieses bemerkenswerte Panorama vielfältiger, ja bisweilen konträrer Orientierungen und Aktivitäten reichte gar bis in die Zeit des Faschismus, in der nicht wenige Juden als Faschisten auftraten und sich in der Partei engagierten.
1938 aber wurde der Mannigfaltigkeit des jüdischen Engagements und entsprechender Identifikationen ein jähes Ende bereitet. Schon zuvor war sie durch den Ausbau des totalitären Staates für diejenigen Juden, die nicht dem Faschismus zuneigten, ausgehöhlt worden. Seit dem Konkordat mit dem Vatikan von 1929 hatte der faschistische Staat der katholischen Kirche den Zugriff auf die Bereiche Bildung und Erziehung ermöglicht. 1930 hatte die Regierung die Vielfalt jüdischer Orientierungen dadurch unterminiert, dass sie die jüdischen ­Gemeindeorganisationen vereinheitlichte und auf eine Linie brachte: Das betreffende Gesetz stellte erstmals in der Geschichte Italiens allgemein verbindliche Normen für alle israelitischen Gemeinden auf; zuvor waren diese nach keinem einheitlichen Statut geregelt gewesen. Die faschistische Regierung schrieb ferner die Registrierung aller Jüdinnen und Juden vor und unterstellte die Gemeinden ihrer politischen Kontrolle. Dennoch identifizierte sich eine Reihe von Jüdinnen und Juden weiterhin mit dem Faschismus; jüdische Faschisten gründeten sogar eine eigene Zeitschrift: La nostra bandiera. Selbst den Kolonialkrieg in Abessinien legitimierten einige ­Juden in Italien mit dem Argument, dass man den dort lebenden schwarzen Juden, den Falaschas, die Zivilisation bringen würde.
Die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung arrangierte sich zunächst mit dem faschistischen Regime. Einige Jüdinnen und Juden aber schlossen sich dem Widerstand an, andere engagierten sich verstärkt in den zionistischen Verbänden. Alle banden sich immer enger den Kreisen und Milieus an, denen sie sich am ehesten nahe fühlten. Auch ausländische jüdische Journalisten, die über das faschistische Italien berichteten, hatten die schleichendenden Veränderungen sehr genau wahrgenommen. So etwa der Korrespondent der zionistischen Jüdischen Rundschau, Kurt Kornicker, der 1931 nach einer Audienz bei Mussolini noch eine hagiografische Schrift über den „Duce“ verfasst hatte: 1936 schrieb er anlässlich der internationalen Machtkonflikte im östlichen Mittelmeer, dass in Italien „die antisemitischen Äußerungen der Presse einen beängstigenden Umfang“ annahmen. Mit dem Jahr 1938 jedoch mussten alle, gleichgültig welcher politischen, weltanschaulichen oder konfessionellen Orientierung sie angehörten, erfahren, dass sie unterschiedslos verachtet, diffamiert und ausgegrenzt wurden. Die Rassengesetze waren ein Schock. Die alten Orientierungen gingen verloren. Nicht wenige Jüdinnen und Juden fügten sich, andere verstärkten ihren Widerstand, wieder andere emigrierten, einige wählten den Freitod. Am Ende standen die mit der deutschen Besetzung Italiens einsetzenden Deportationen. Die Beiträge dieses Heftes geben Einblicke darin, wie Jüdinnen und Juden in Italien diesen Bruch von 1938 wahrgenommen, erfahren und verarbeitet haben. Dabei werden exemplarisch Biografien, Schriften und Organisationen aus verschiedenen sozialen und kulturellen, politischen und intellektuellen Kontexten in den Blick genommen. Zugleich wird einem folgenreichen Topos späterer Versuche, das Erfahrene zu verarbeiten, nachgegangen und gezeigt, wie dieser auch die Erinnerungen an 1938 prägen sollte.

Inhaltsverzeichnis

INHALT

Michael Brenner
Vorwort

Ruth Nattermann und Ulrich Wyrwa
Einleitung

Michele Sarfatti
"Wie ein Blitz aus heiterem Himmel"? Die faschistische Rassengesetzgebung von 1938

Lutz Klinkhammer
Ohne Sehnsucht nach einem "noch blaueren Himmel". Jüdische Anhänger Mussolinis in Italien

Ruth Nattermann
"Aber die Realität ist immer anders als die Vorausschau". Das Jahr 1938 als Brucherfahrung im Leben der Mailänder Feministin Nina Rignano Sullam

Liana Novelli Glaab
"Immer wieder müssen wir neu anfangen". Die vielen Wege der Familie Herzog

Daniel Vogelmann
Schulim Vogelmann. Eine imaginäre Autobiografie meines Vaters

AUS DEM ARCHIV

Jacob Leib Teicher (1904–1981). Zwei Briefe aus dem Exil (1938 und 1945) – mit einer Einführung von Anna Teicher

BERICHTE

Julia Treindl
"Niemand ist fehlerfrei, aber wir alle können an uns arbeiten."
Ein Praxisbericht über Veranstaltungen am Lehrstuhl für Jüdische Geschichte und Kultur für (angehende) Lehrkräfte sowie Schülerinnen und Schüler

NACHRICHTEN UND TERMINE

Lehrstuhl für Jüdische Geschichte und Kultur
(Prof. Dr. Michael Brenner)

Neues von Mitarbeitern und Absolventen
Veranstaltungen
Neues vom Freundeskreis des Lehrstuhls

Professur für Mittelalterliche Jüdische Geschichte
(Prof. Dr. Eva Haverkamp-Rott)

Neues von Mitarbeitern und Absolventen
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